8 Tipps für den Alltag mit willensstarken Kindern

8 Tipps für den Alltag mit willensstarken Kindern

Viele Eltern klagen über sogenannte willensstarke Kinder. Besonders häufig sind es Eltern, die sich durch die große Durchsetzungskraft ihres Kindes sehr schnell in Machtkämpfe verstricken. Aber was sind willensstarke Kinder überhaupt?

Jesper Juul hat sie in seinen Büchern und Interviews schon sehr früh beschrieben und gleich auch einige wertvolle Tipps für den Alltag geliefert. In diesem Artikel gebe ich dir 8 Tipps an die Hand, wie du willensstarke Kinder erkennen kannst und worauf du im Umgang mit ihnen grundlegend achten kannst, um den Alltag nerven schonender zu gestalten.

 

Was sind willensstarke Kinder?

Willensstarke Menschen haben ein sehr starkes Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Das zeigt sich bereits von Geburt an in ihrem Verhalten: Sie sind meist selbstbewusst, entschlossen und wissen genau, was sie wollen und was nicht. Kinder mit starkem Willen sind hartnäckig und mit großem Eifer bei der Sache, solange es Dinge sind, die sie auch wollen. Sie sind kaum zu motivieren, wenn sie etwas tun sollen, das in ihren Augen weder Sinn macht noch logisch erscheint. Wie alle Eltern und Lehrkräfte wissen, ist der Umgang mit diesen willensstarken Kindern nicht einfach. Weitere häufig verwendete Begriffe für willensstark sind: eigensinnig, entschlossen, durchsetzungsstark, selbstbestimmt und autonom.

 

Warum sind manche Kinder willensstark?

Jeder Mensch wird mit bestimmten Charaktereigenschaften geboren, die wir von den Eltern und Vorfahren vererbt bekommen. Willensstarke Kinder haben meist zumindest ein Elternteil, mit dem es diesen Wesenszug teilt.Das sogenannte Temperament (der Wesenszug) bezieht sich auf die angeborenen Neigungen, Persönlichkeitsmerkmale, Bedürfnisse und Verhaltensweisen, mit denen ein Kind geboren wird.Studien aus den unterschiedlichen Bereichen der Temperamentsforschung zeigen, dass ein kleinerer Teil der Bevölkerung, knapp 15 – 20 %, zu den willensstarken Menschen zählen.Und das stellt gleichzeitig auch eine gewisse Herausforderung für willensstarke Kinder innerhalb der Gesellschaft in Bezug auf die Akzeptanz dar: Durchsetzungskraft, hohe Vorstellungskraft, gute Verhandlungsfähigkeit, sich nicht über den Tisch ziehen lassen, auf seinem Standpunkt bestehen können, für sich selbst einstehen können – das sind typische Merkmale von Willensstärke und diese sind bei Erwachsenen geschätzte und positive Eigenschaften. Dieselben Eigenschaften werden bei Kleinkindern und Schulkindern jedoch als Trotz, Eigensinn oder Sturheit ausgelegt.

 

Wie lernen willensstarke Kinder?

​Willensstarke Kinder sind erfahrungsorientierte Lerner. Sie wollen sich nichts vorschreiben lassen und sie hassen es, belehrt zu werden. Schließlich wissen sie selbst alles besser. Dennoch sind sie wissbegierige junge Menschen, die alles aufsaugen wie ein Schwamm. Doch -  sie wollen es erleben und selbst entscheiden. Feinheiten in der Kommunikation sowie das Vermeiden von Doppelbotschaften sind das Um und Auf in der Bildungslaufbahn dieser Kinder.

 

Wenn die Trotzphase scheinbar niemals endet!

Du weißt vielleicht schon, dass der Begriff 'Trotzphase' zwar gebräuchlich, jedoch nicht unbedingt der Richtige ist. ​Der treffendere Begriff für dieses natürliche Entwicklungsstadium bei Kindern ist Autonomiephase und mehr darüber liest du hier. Dennoch hält sich der Begriff sehr hartnäckig und die bestimmten Verhaltensmerkmale des Kindes, die diese Phase so mit sich bringt, wird oft mit Trotz verwechselt.

Willensstarke Kinder streben aber von Geburt an nach Selbstbestimmung und Autonomie und dies bleibt auch nach der Autonomiephase bestehen ​. ​Viele Eltern treibt es in die Verzweiflung, wenn das Kind auch mit 5 oder 6 Jahren noch immer anhaltend 'trotzig' bleibt.

 

So sehr sie mich nach Wutanfällen braucht, so sehr führt sie den Kampf mit mir. Egal, was ich sage, es kommt ein Veto oder ein "Mach ich sicher nicht!" bzw. ein "Wieso muss ich immer machen, was ihr sagt, ich kann über mein Leben selbst bestimmen!"Das kostet gerade morgens so viel Zeit und Energie und zieht sich durch den ganzen Tag....

Eine leicht verzweifelte Mutter

 

Obwohl diese Aussage auch an die kindliche Autonomiephase (eben bekannter als Trotzphase) erinnert, gibt es hier dennoch einen Unterschied zu Kindern, die bereits von Geburt an diese Verhaltensweisen zeigen. Jesper Juul ​​bezeichnete diese Kinder in seinen Büchern schon sehr früh als autonome bzw. willensstarke Kinder. In seinem letzten Buch beschreibt er sie als selbstbestimmte Kinder.

 

So beschreibt Jesper Juul willensstarke Kinder:

 

Das sind im Wesentlichen die Verhaltensmerkmale, die er ihnen zuschreibt:

  • Sie kennen und beachten ihre Bedürfnisse genau und ohne Ausnahme.

  • Sie nehmen ihre persönlichen Grenzen ernst.

  • Sie lassen sich nicht manipulieren.

  • Sie mögen keinen Körperkontakt, der nicht von ihnen ausgeht.

  • Sie weichen vor jedem erwachsenen Verhalten zurück, das nicht vollkommen authentisch und frei von pädagogischer Manipulation ist.

  • Sie sagen nur dann Ja, wenn sie die absolute Wahlfreiheit haben.

  • Sie benehmen sich oft wie reife Erwachsene, die ein ausgeprägtes Selbstbild haben.

  • Sie wollen immer ihre Würde und Integrität wahren.

 

Von vielen Erwachsenen werden diese Punkte missverstanden oder falsch interpretiert. So kommt es im Alltag mit willensstarken Kindern zu mehr Konflikten als es notwendig wäre. Weiter unten gebe ich dir hilfreiche Tipps, die du im Alltag umsetzen kannst.

 

Wie äußern sich diese Merkmale im Alltag?

Die Erfahrung zeigt, dass sich die Merkmale durchaus unterschiedlich zeigen. Während sich dieses Verhalten bei einigen Kindern ​ vorwiegend im sicheren Hafen der Familie äußert, zeigt es sich bei anderen ​auch außerhalb des zu Hauses. Hier sind einige Beispiele (aus den Büchern von Jesper Juul, in dieser Form dankenswerterweise gesammelt von Frühlingskindermama*). In der Arbeit mit vielen Eltern sehe ich aber, dass nicht alles immer in gleicher Intensität auf jedes Kind zutreffen muss:

  • Im Babyalter: starker Wille, immerzu wach, neugierig und aktiv, nicht kuschelig, aber sehr anhänglich, sehr weit entwickelt und "überhaupt nicht so, wie wir uns ein Baby so vorgestellt hatten". Manchmal sind das Babys, die die Eltern an den Rand eines Nervenzusammenbruchs bringen können. Wie du hochsensible Babys erkennst, kannst du hier auf meiner ‘hochsensiblen Webseite’ lesen.

  • Wenn sie zur Welt kommen, haben sie oft schon einen reifen Gesichtsausdruck. Eine Mutter meinte dazu „… wie wir Freunde besuchten, als der Große gerade 3 Wochen alt war, sagte die Freundin als Erstes, dass er wie ein weiser alter Mann aussehen würde …“

  • Kinder brauchen Nahrung: in Form von Fürsorge und Liebe. Den meisten Kindern kann man das einfach vorsetzen. Autonome Kinder dagegen benötigen diese Nahrung "vom Buffet", damit sie sich davon nehmen können, wann immer sie wollen. Man kann diese Kinder kaum zu etwas animieren, dass sie nicht selbst wollen.

  • Sie lassen sich nicht korrumpieren. Man kann ihnen auch nicht drohen oder sie bestechen. Sie besitzen eine außerordentlich stark ausgeprägte Integrität. Eine an sich sehr gute Eigenschaft, aber im Alltag kann sie für Eltern eine große Herausforderung darstellen.

  • Diese Kinder wollen selbst bestimmen. Sie lassen sich nicht manipulieren. Sie sind vollkommen bei sich, aber dadurch natürlich auch ab und zu sehr einsam. Willensstärke kann grundsätzlich als ein sehr positiver Charakterzug gesehen werden. Es kostet dennoch sehr viel Kraft, die Gedankengänge dieser Kinder zu erforschen, um sie doch noch zu einer Kooperation zu bewegen.

  • Die meisten autonomen Kinder kommen sehr gut im Kindergarten oder Schule zurecht oder wenn sie mit anderen Kindern spielen. Aber sie reagieren allergisch auf pädagogisches Süßholzraspeln. Sie bemerken sehr schnell, wenn Pädagoginnen und Bezugspersonen nicht authentisch sind oder sich nicht sicher sind. Da kommt es dann schnell zu einem Kräftemessen.

  • Kinder wie diese benötigen keine Strafen. Es geht vielmehr darum, dass man ihnen sagt: "Ich bin dabei, zu lernen, wie ich mich verhalten muss, damit es dir gut geht." Dann müssen sie nicht so viel Energie darauf verwenden, ihren Willen durchzusetzen. Abgesehen davon, dass Kinder grundsätzlich keine Strafen brauchen, geht es hier darum, Konfliktpunkte schon im Ansatz zu vermeiden, Bedürfnisse versuchen zu verstehen und somit dem Kind entgegenzukommen – was in einem hektischen Alltag oft nicht geht.

  • Wenn Eltern unaufdringlich ihre Hilfe anbieten und sich aller Erklärungs-, Motivations- und Manipulationsversuche enthalten, dann nehmen autonome Kinder diese Hilfe gern an. Ihr Körper entspannt sich, und ihre Erleichterung, der Einsamkeit entronnen zu sein, wird deutlich. Erst wenn die Eltern ihre Eigenart voll und ganz akzeptieren, lassen sie es zu, dass man sich um sie kümmert und sie umsorgt.

 

Jesper Juul, wie auch die meisten anderen Erziehungsratgeber aus der beziehungs- und bedürfnisorientierten Ecke, berücksichtigen Hochsensibilität und Hochbegabung nicht. Jedenfalls nicht explizit. Alle "konventionellen" Erziehungsratgeber sind​ leider weit davon entfernt, diese Themen in ihre Betrachtung aufzunehmen!

Vom jeweiligen Forschungsstandpunkt der Temperamentsforschung gesehen, gibt es aber eine große Überschneidung und bestimmte Denkfehler führen dazu, dass Eltern sich den Alltag ein wenig zu schwer machen. 10 Schritte, um mit dem Schimpfen aufzuhören.

Der Jüngere unserer Kinder isst mit Vorliebe dann, wenn wir nicht essen - beim Abendessen kommt er nach 2 Bissen drauf, dass er jetzt sicher keinen Hunger hat - dafür kurz vorm Schlafen gehen. Die Bitte zum Zähneputzen, Umziehen oder Wegräumen wird oft ignoriert, mit "sicher nicht" kommentiert, nur um ihr dann nach ein paar Minuten doch nachzukommen. Er hat ein (nur scheinbar) großes Selbstvertrauen und ist andererseits sehr verletzlich und sehr schnell beleidigt...

Ein auf mehr Kooperation hoffendes Elternpaar

 

Wie geht man nun mit autonomen Kindern um? 8 Tipps für den Alltag!

Die folgenden Tipps kennst du vielleicht aus Juul's Büchern und du wirst sie eventuell auch schon anwenden. Trotzdem möchte ich betonen, dass sie bei diesen Kindern wirklich eine absolute Notwendigkeit sind, wenn wir unser eigenes Reizniveau konstant senken wollen, um als Eltern möglichst lange in der Komfortzone zu bleiben.

1. Sei authentisch und sprich authentisch:

Das bedeutet im Klartext, benutze unbedingt die „Ich-Form“ bei deinen Aussagen und vermeide „man-Aussagen“ wie z.B. „Das macht man nicht!“ Mache darüber hinaus klare und persönliche Ansagen ohne jeden Firlefanz – dieser wird nämlich bei aller Kreativität sehr gut für Ablenkungsmanöver genutzt.  „Ich will, dass du dich anziehst, du kannst das machen, wann du willst, aber ich möchte, dass du es tust.“ Auf diese Weise muss das Kind nicht kapitulieren, sondern hat das Gefühl, es stellt die Bedingungen.

 

2. Lass dem Kind Zeit, über deine Aussagen nachzudenken:

Mache unbedingt eine Pause, damit dein Kind über dein Gesagtes nachdenken kann. Es braucht Zeit, sich der Aufforderung und der Aussage klar zu werden, sie zu reflektieren, eigene Lösungswege abzuwägen, um danach gegebenenfalls mit eigenen Ideen zu kommen.

 

3. Rede offen:

Dein willensstarkes Kind ist sehr klug und durchschaut fadenscheinige Aussagen. Es kommt ganz gut mit der Wahrheit zurecht, auch wenn es noch ein junges Kind ist und aufgrund enttäuschender Wahrheiten entwicklungsbedingt Wutausbrüche haben kann. 5 Tipps, wie du damit umgehen kannst, findest du hier.

 

4. Frage nach seinen Bedürfnissen:

„Was brauchst du?“, und „Was willst du?“ sind ganz wichtige Fragen bei willensstarken Kindern, die ganz genau wissen, was sie NICHT wollen. Vielleicht hast du das Bedürfnis verkannt oder den Grund für sein Verhalten nicht richtig erkannt, sodass ihr aufgrund dieses Missverständnisses komplett aneinander vorbeiredet.

 

5. Biete Wahlmöglichkeiten:

Bei allem, wo du das ermöglichen kannst! Bei der Zeit (Verlassen des Spielplatzes, schlafen gehen), beim Tagesablauf (Mahlzeiten, Zähne putzen, Anziehen), bei Varianten (Schlafen mit oder ohne Pyjama, Süßes vor oder nach der Hauptspeise …) - kurz gesagt, werde kreativ und hinterfrage deine geprägten Muster und wie deine eigenen Vorstellungen zu Machtkämpfen führen können.​

 

6. Nimm‘ es nicht persönlich

Beziehe ​den Widerstand nicht auf dich, sondern versuche es vom Standpunkt des Kindes aus zu betrachten: Dieses Kind braucht zumindest das GEFÜHL autonom, unabhängig und frei zu entscheiden, auch wenn es dies logischerweise nicht immer und absolut tun kann.

 

​7. Biete deine Unterstützung an

Das Kind weiß meist genau, was es selbst kann, doch es kann es nicht allein! Es braucht (wie alle Kinder) deine liebevolle Fürsorge, deine Hilfe und deinen Rat - doch sollte es sich dabei um Angebote handeln. Alles andere erlebt es als Angriff auf seine persönliche Autonomie. Und solange der Vernunftsteil seines Gehirns noch nicht vollständig ausgereift ist, ist es auch schneller in der Emotion. Machtkämpfe sind ein Schuss nach hinten und bringen die ganze Familie in eine Abwärtsspirale.​

 

​8. Bringe viel Geduld mit

Diese Kinder in ihrem Wesen zu erkennen und sie nicht zu etwas Anderem machen zu wollen, ist für uns Eltern, die wir alle eine Erziehung durchlaufen sind, ​nicht so leicht.​ Viele sehen sich unbewusst in ihrer Autorität bedroht, und haben Sätze im Kopf wie: „Die tanzt dir ja auf der Nase herum“, und „Wer hat hier die Hosen an, du oder dein Kind?“.​

Zusammenfassend können wir feststellen, dass willensstarke Kinder meist willensstarke Eltern haben. Der Wesenszug ist angeboren und bringt ein starkes Bedürfnis nach Selbstbestimmtheit und Integrität mit sich.

Willensstarke Kinder benötigen Bezugspersonen, die sie dabei unterstützen. Wenn du mehr auf die Bedürfnisse deines selbstbestimmten Kindes eingehen möchtest, findest du hier 10 hilfreiche Tipps für einen optimalen Start.

Beispiele *) sind aus dem Buch von Jesper Juul: Elterncoaching – Gelassen erziehen, in Aufarbeitung von Frühlingskindermama. Die Beschreibung und Merkmale der "autonomen Kinder" findet sich in mehreren von Jesper Juuls Bücher und Interviews wieder. Das Interview zu diesem Thema mit Jesper Juul (von 2015) findest du beispielsweise hier.

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