Ist Hochsensibilität der neue Hype? Hochsensibilität (oder Hochsensitivität) ist nichts Neues. Es ist keine Modeerscheinung, kein Hype und kein plötzlich auftauchendes Syndrom. Es ist weder eine Störung, noch eine Krankheit! Es ist ein ganz normaler Wesenszug, der ca. 20 % der Weltbevölkerung betrifft – und ja, man glaubt es kaum – Männer und Frauen gleichermaßen.
Nach letzten wissenschaftlichen Erkenntnissen vererbbar, das bedeutet, wenn du hochsensibel bist, ist es wahrscheinlich zumindest ein Elternteil von dir auch – wenn du Kinder hast, stehen die Chancen gut, dass sie auch hochsensibel sind. Daher spreche ich seit mehr als 6 Jahren in Bezug auf Hochsensibilität immer im Familienkontext.
Elaine N. Aron gilt als Pionierin auf dem Gebiet der Hochsensibilitäts-Forschung. Sie ist die Begründerin des psychologischen Konstrukts “Sensory Processing Sensitivity” und trug mit ihren Standardwerken „Sind Sie hochsensibel?“ und „Das hochsensible Kind“, welche sie in 1997 und danach veröffentlichte, maßgeblich zur Bekanntheit von Hochsensibilität bei (hier findest du die Bücherliste).
Gemeinsam mit ihrem Mann Art Aron veröffentlichten sie danach die wissenschaftliche Arbeit „Sensory-Processing Sensitivity and Its Relation to Introversion and Emotionality“. Zu deutsch wäre der treffendere Begriff “Reiz-Verarbeitungs-Sensitivtät” und nicht Hochsensibilität (mehr darüber findest du hier).
Hochsensibilität ist kein Hype, sondern wissenschaftlich erforscht
Es könnte der Eindruck entstehen, dass es Hochsensibilität also erst seit Arons Büchern und somit seit 20 Jahren gibt – aber dieser Eindruck wäre grundfalsch!
1856: Der erste Forscher im deutschen Sprachraum war der Naturwissenschaftler und Chemiker Dr. Carl Ludwig von Reichenbach. Er führte Untersuchungen zum „sensitiven, begabten Menschen“ durch und veröffentlicht mehrere Bücher, wie z.B. „Der sensitive Mensch und sein Verhalten zum Ode, Wien 1858, Einschätzung der menschlichen Psyche”.
1930er Jahre: Der Psychologe Carl Gustav Jung forscht zum Thema Intro- und Extraversion, wobei er viele Eigenschaften von Introversion entdeckte, die deutlich mit Hochsensibilität zusammenhängen. Nach Prof. Elaine Arons Forschungen sind sie aber nicht identisch damit und sie bezieht die Ergebnisse Jungs in ihre Forschung mit ein.
1945: Der Theologe und Psychiater Eduard Schweingruber veröffentlicht seine Studie ‚Der sensible Mensch‘. Das Buch gibt bereits wertvolle und konkrete Tipps, wie man als „hypersensibler“ Mensch ein glückliches, erfülltes Leben führen kann, ohne sich fremd und andersartig fühlen zu müssen. Er erläutert weiters, dass diese Menschen keine Therapie, sondern lediglich eine Anleitung zur Lebensführung benötigten! Ein sehr wichtiger Hinweis, wie ich finde.
1960er/1970er-Jahre: Der Psychiater Wolfgang Klages, Lehrstuhl der Psychiatrie an der medizinischen Fakultät der Uni Aachen, veröffentlicht sein Buch: ebenfalls unter dem Titel ‚Der sensible Mensch‘. Er kommt zu dem Ergebnis, dass „früher noch gut kompensierte sensible Menschen in zunehmenden Maße ins Psychopathologische gehende Verhaltensweisen (zeigen)“, weil „im Zuge der zeitgeschichtlichen Entwicklung die technisch geprägte Welt (stimulationsreicher) wird.“
Auch Iwan Pawlow (1849-1936), russischer Mediziner und Physiologe, forschte nach einer Möglichkeit, die Empfindlichkeit von Menschen, d.h. ihre Sensitivität für Sinnesreize (sensorische Stimulationen) zu messen. Er stellte fest, dass eine kleinere Gruppe von Menschen, zwischen 10-20 %, deutlich eher an den Punkt der Überlastungshemmung („transmarginal inhibition“) gelangt als die größere Gruppe. Pawlow schloss aus diesen und weiteren Untersuchungen, dass diese Unterschiedlichkeit auf das Temperament eines Menschen zurückzuführen sei und die kleinere Gruppe ein „fundamental unterschiedliches Nervensystem“ habe und dies angeboren sei.
Jerome Kagan, renommierter Entwicklungspsychologe, erforschte an Säuglingen ihre Reaktion auf unterschiedliche Bedingungen. Er stellte fest, dass eine kleinere Gruppe, ca. 15-20 %, schneller und intensiver auf Reize reagierte. Diese Säuglinge reagierten grundlegend anders, empfindsamer und schreckhafter, wenn sie neuen Reizen ausgesetzt wurden. Er nannte sie „high-reactive“, im deutschen Sprachgebrauch auch „gehemmt“, was jedoch die Bedeutung nicht korrekt widergibt. Auch er führt diese Reaktion auf ein angeborenes Temperament zurück.
Menschen mit hoher Sensibilität gab es also immer schon!
Warum spricht man erst in den letzten Jahren vermehrt darüber? Warum wird Hochsensibilität von vielen als Hype angesehen? Eliane Reichardt schreibt in ihrem Buch (siehe Bücherliste), dass die technischen und gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 60 Jahre logische und tief gehende Auswirkungen auf den Menschen zu haben scheinen. Wir werden mit Reizen überflutet, die es bis vor einigen Jahrzenten in diesem Ausmaß noch nicht gab! Das zeigt sich bei einer Gruppe von Menschen, deren Wahrnehmung intensiver ausgeprägt ist, als Erstes und so hält das Thema Hochsensibilität nun endlich auch Einzug in die Gesellschaft, sowie in Mode- und Lifestyle-Magazine. Hier findest du einen Artikel im Frauenmagazin WIENERIN >>
Aber was genau ist Hochsensibilität?
Wenn man Hochsensibilität feststellen will, hält man Ausschau nach den folgenden vier Aspekten, die Elaine Aron zur Selbsteinschätzung festgelegt hat:
1 | GRÜNDLICHE VERARBEITUNG VON INFORMATION
2 | RASCHE ÜBERERREGBARKEIT
3 | EMOTIONALE INTENSITÄT
4 | SENSORISCHE EMPFINDLICHKEIT
Hochsensible Menschen haben eine erhöhte Sensitivität (Reizaufnahme), die sie alle möglichen subtilen Sinnesreize von außen, wie auch innen wahrnehmen lässt. Mit Sinnesreizen von außen ist alles gemeint, was an Information über die Sinnesorgane ins Gehirn einströmt.
Bei allen hier 4 genannten Punkten gilt:
Alle 4 Merkmale müssen vorhanden sein, doch können sie in individuell unterschiedlichen Ausprägungen auftreten und auch in unterschiedlicher Intensität:
- Ferner ist wichtig, inwieweit in der Kindheit eine angemessene Emotionsregulation erlernt werden konnte und inwiefern das Elternhaus/die Bezugspersonen stabil sind/waren.
- Eine gute Bindung ebnet dem hochsensiblen Kind einen ganz anderen Weg, als eine „schlechte“ Kindheit.
- Hochsensible Menschen fühlen sich, in Unkenntnis ihrer Hochsensibilität, nicht „normal“, „anders“ oder nicht zugehörig.
Sowohl Ausprägung und Intensität dieser vier Punkte, als auch die Stabilität im Elternhaus und die damit verbundene Emotionsregulation haben einen Einfluss darauf, wie stark oder schwach, belastend oder bereichernd dies wahrgenommen und in den Alltag integriert wird.
Hier findest du die Bücherliste.